Afghanistan: 50 % mehr Kinder mit Cerebralparese in Kabul behandelt

11. Januar 2023
Afghanistan: 50 % mehr Kinder mit Cerebralparese in Kabul behandelt

In den ersten elf Monaten des Jahres 2022 verzeichnete das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg von 50 % bei wegen Cerebralparese (CP) behandelten Kindern in Kabul. Vor dem Hintergrund der akuten Nahrungsmittelunsicherheit, von der die Hälfte der Bevölkerung des Landes betroffen ist (über 20 Millionen Menschen), wurden im physischen Rehabilitationszentrum in Kabul 1 673 neue Patientinnen und Patienten wegen Cerebralparese behandelt (1 125 im selben Zeitraum 2021).

„Armut, Traumen, fehlendes medizinisches Bewusstsein und kaum regelmässige Kontrollen von Müttern vor und während Schwangerschaften sind Faktoren, die bei Ungeborenen zu Cerebralparese führen können", erklärt Dr. Murid Ahmad Rasekh, Leiter der pädiatrischen Abteilung im physischen Rehabilitationszentrum des IKRK in Kabul. Die unzureichende Ernährung von Müttern während der Schwangerschaft und physische Anstrengungen wie Arbeit auf dem Feld tragen ebenfalls zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Zerebralparese bei. „Selbst wenn wir die steigende Zahl an Patientinnen und Patienten nicht in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der sich verschlechternden humanitären Lage in Afghanistan bringen können, wissen wir doch, dass mehr Menschen Mühe bekunden, etwas zu Essen auf den Tisch zu stellen, und dass es definitiv einen Anstieg bei Fällen von Mangelernährung gibt", so Dr. Murid Ahmad Rasekh.

Die Bedeutung einer frühzeitigen Behandlung
Cerebralparese tritt im sehr frühen Kindesalter auf und wird durch Fehlbildungen während der Gehirnentwicklung verursacht. In der Folge sind Störungen am Bewegungsapparat, an der Muskelkontrolle, -koordination und spannung, an Reflexen, der Haltung und dem Gleichgewicht zu beobachten. Cerebralparese ist nicht heilbar und die Ausprägungen sind bei jedem betroffenen Kind anders. Die Entwicklungsstörungen können während der Schwangerschaft, bei der Geburt bzw. kurz nach der Geburt auftreten. „Die Symptome bei den betroffenen Kindern sind unterschiedlich und verändern sich altersbedingt, darunter schwache Muskeln, ein schlechter Gleichgewichtssinn, Schwierigkeiten beim Hören, Sprechen, Sitzen und Laufen sowie epileptische Anfälle und visuelle, sprachliche und intellektuelle Beeinträchtigungen", so Dr. Murid Ahmad Rasekh weiter.

Dr. Murid Ahmad Rasekh, Leiter der pädiatrischen Abteilung im physischen Rehabilitationszentrum des IKRK in Kabul, bei der Untersuchung eines CP-Patienten. (Abdul Wakil/IKRK)

Cerebralparese ist nicht heilbar und die Hirnschädigung irreversibel. Die Betroffenen können sich begleitend behandeln lassen, beispielsweise durch eine Physiotherapie, die in den sieben Rehabilitationszentren des IKKR in Afghanistan kostenlos angeboten wird. „Diese Behandlungen verbessern die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten und helfen ihnen, ihr Potenzial auszuschöpfen. Je eher mit der Behandlung begonnen wird, desto besser sind die Aussichten auf eine Verbesserung des Zustands", sagt Dr. Murid Ahmad Rasekh. Er erklärt weiter, dass Kindern mit Cerebralparese eine begleitende Behandlung hilft, sich selbst um ihre alltäglichen Bedürfnisse zu kümmern und so unabhängiger zu werden. Sie trägt auch dazu bei, Zerrungen der Muskeln, Fehlbildungen und wundgelegene Stellen zu vermeiden. „Insgesamt hilft es den Betroffenen und ihren Familien, ihr Leben zu erleichtern", so Dr. Murid Ahmad Rasekh.

Die meisten Familien, die Unterstützung in einem der IKRK-Rehabilitationszentren suchen, kennen die Gründe für eine Cerebralparese nicht. „Wir sehen Familien mit drei oder vier Kindern, die alle an Cerebralparese leiden. Den meisten Familien fehlt es an der entsprechenden Bildung und sie haben Mühe, finanziell über die Runden zu kommen. Meist wissen sie nicht genug über die Bedeutung einer gesunden Ernährung und die Notwendigkeit, sich während der Schwangerschaft auszuruhen", berichtet Dr. Murid Ahmad Rasekh.

Dr. Murid Ahmad Rasekh bei einer physiotherapeutischen Behandlung eines Kindes mit Cereralparese im IKRK-Rehabilitationszentrum in Kabul. (Abdul Waakil/IKRK)

„Ich musste meinen Job aufgeben, um mich um meine Tochter zu kümmern."
Familien, die sich um ihre Kinder kümmern müssen, stehen oftmals vor immensen Herausforderungen. Susan, die Mutter einer Patientin im Rehabilitationszentrum in Kabul, erzählt ihre Geschichte. „Meine Tochter war ein Jahr alt, als wir mit der Behandlung im Zentrum begonnen haben. Sie wird nun schon seit sieben Jahren hier betreut. Ich habe früher als Lehrerin gearbeitet und musste meinen Job aufgeben, um für meine Tochter da zu sein. Es ist schwierig, sie zu füttern, anzuziehen oder mit nach draussen zu nehmen. Ihr Vater hat mittlerweile auch keine Arbeit mehr. Unsere finanzielle Situation ist schlecht, weil wir keine Einkommensquellen mehr haben. Wir essen dann, wenn unsere Angehörigen uns helfen", berichtet Susan.

Sie sagt auch, dass die Physiotherapie und die Hilfsmittel, die sie im Zentrum bekommen haben, ihrer Tochter helfen, etwas unabhängiger zu werden. „Ich wünsche mir, dass mein Kind eines Tages essen, sitzen, zur Schule gehen und sich um sich selbst kümmern kann."

Ein Physiotherapeut hilft Susans Tochter bei den Übungen im physischen Rehabilitationszentrum in Kabul. (Masoud SAMIMI/IKRK)

Millionen Menschen sind von der Wirtschaftskrise in Afghanistan betroffen und Familien mit Kindern, die an Cerebralparese leiden, haben mitunter sogar Mühe, überhaupt in eines der physischen Rehabilitationszentren zu kommen. Noorullah hat seinen Sohn aus Khost in das Zentrum in Kabul gebracht und erzählt, dass dieser seit vier Jahren in Behandlung ist. „Dank der ärztlichen Ratschläge und der regelmässigen Übungen sehen wir, wie sich der Gesundheitszustand unseres Kindes verbessert. Er hat rund 20 Prozent seiner Bewegungsfähigkeit wiedererlangt", so Noorullah. Aber die Reise ins Zentrum war eine Herausforderung für die Familie. „Ich musste mir Geld leihen, um ein Auto zu mieten und meinen Sohn herzubringen. Man hat uns gesagt, wir sollen in 15 Tagen nochmal herkommen, aber ich weiss nicht, wie ich wieder ein Auto besorgen soll", erklärt Noorullah, der seine Familie alleine ernährt.

Noorullah und sein Sohn warten auf ihren Behandlungstermin im Rehabilitationszentrum. (Masoud SAMIMI/IKRK)

Über 1 000 Patientinnen und Patienten mit Cerebralparese werden jeden Monat im physischen Rehabilitationszentrum in Kabul behandelt, darunter über 300 Neuzugänge und rund 750 Betroffene, die bereits regelmässig betreut werden. Trotz der hohen Zahl an Patientinnen und Patienten, die jeden Monat in den Einrichtungen behandelt werden, warten immer noch viele weitere auf eine angemessene medizinische Versorgung. Aktuell stehen über 1 200 Kinder mit Cerebralparese auf der Warteliste der physischen Rehabilitationszentren des IKRK.

Kinder mit Cerebralparese werden im physischen Rehabilitationszentrum in Kabul behandelt. (Murid Ahmad Rasekh/IKRK)