Nahrungsmittelverteilung in Saada, Jemen. April 2020/IKRK

COVID-19: Naher Osten vor Gesundheitskrise und sozioökonomischem Erdbeben

Länder, in denen ein Konflikt ausgetragen wird, brauchen dringend Unterstützung, um die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen und sich auf die möglicherweise verheerenden Auswirkungen vorzubereiten, sagt Fabrizio Carboni, Direktor Naher und Mittlerer Osten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK):

„Der Nahe Osten ist heute mit einer zweifachen Bedrohung konfrontiert: einer potenziell massiven Ausbreitung der Infektionen in Konfliktgebieten und absehbaren wirtschaftlich und sozial bedingten Unruhen. Beides könnte schwerwiegende humanitäre Folgen haben.

Die COVID-19-Pandemie droht zu einem globalen sozioökonomischen Erdbeben mit verhängnisvollen Auswirkungen in den Konfliktgebieten der Region zu werden. Dort haben Millionen von Menschen bereits jetzt mit einer Vielzahl von Problemen zu kämpfen: die Gesundheitsversorgung ist eingeschränkt oder inexistent, es mangelt an Nahrung, Wasser und Strom sowie an Erwerbsmöglichkeiten, die Preise steigen und die Infrastruktur ist zerstört.

Wenn die internationale Gemeinschaft die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie nicht in ihre Strategie einbezieht, werden sich die humanitären Probleme verschärfen und werden neue entstehen. Behörden und lokale Einsatzkräfte müssen jetzt unterstützt werden, um sicherzustellen, dass später das Leben der Menschen, ihre Lebensgrundlagen und die Ernährungssicherheit geschützt sind.

Dringend erforderliche Massnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit wie Abriegelungen und Ausgangssperren machen es bereits jetzt für viele Menschen schwierig oder unmöglich, für sich und ihre Familien zu sorgen. Kleine Geschäfte werden geschlossen. Cafés stehen leer. Strassenverkäufer haben ihre Laufkunden verloren. Durch die Umstellung auf Online-Arbeit könnten viele Menschen auf der Strecke bleiben. Im Lauf der Zeit dürften Hunger, Mangelernährung, chronische Krankheiten sowie Stress im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Problemen rapide zunehmen.
Im gesamten Nahen Osten leben viele Menschen bereits heute von der Hand in den Mund, kämpfen um ihr Überleben und versuchen trotz grösster Schwierigkeiten einen Neuanfang. Ich empfinde es als bedrückend, wenn ich sehe, wie in Syrien Kinder im Alter meiner eigenen Kinder in einem Lager spielen. Sie gehören zu den Millionen, die wir jeden Tag mit sauberem Wasser versorgen. Im Irak haben mir Mütter und Witwen erzählt, wie wichtig unsere Unterstützung für ihre Kleinbetriebe für die Familien ist. Eine solche Unterstützung wird in den kommenden Monaten, in denen wir dieser Pandemie gemeinsam zu begegnen suchen, entscheidend sein.

Zusammen mit unseren Partnern vom Roten Kreuz und dem Roten Halbmond tun wir unser Bestes, um den am stärksten gefährdeten Menschen in der Region zu helfen und die Bemühungen um eine Eindämmung des Virus zu unterstützen. Im Jemen helfen wir Spitälern, Kliniken und Dialysezentren bei der Rettung von Menschenleben und nun auch bei ihrer COVID-19-Prävention. In Syrien und im Irak unterstützen wir Gefängnisse bei Infektionsschutzmassnahmen. Mit Tanklastwagen bringen wir Wasser in Lager, Vertriebenenunterkünfte und Haftanstalten, damit die Menschen sauberes Wasser zum Waschen haben. Vertriebene und Gefangene erhalten Hygienepakete mit Seife und Shampoo.

Generell müssen unsere Aktivitäten in den Bereichen Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, Energie, Verteilung von Nahrungsmitteln und Haushaltsgerät sowie unsere mikroökonomischen Initiativen weitergeführt und nach Möglichkeit verstärkt werden. So können wir anfällige Systeme stärken und Grundbedürfnisse decken, die wegen der Pandemie möglicherweise in Vergessenheit geraten. Zurzeit registrieren unsere Teams im Jemen Menschen, die Hilfe brauchen. In der gesamten Region wollen wir unsere Unterstützung in den kommenden Monaten verstärken, insbesondere für Menschen, die besonders in Mitleidenschaft gezogen sind, darunter Geringverdienende, Haushaltsvorstände, Bauern und Menschen mit Behinderungen.

Wir haben unsere Arbeitsweise geändert, um die Sicherheit unseres Personals und der Hilfeempfänger zu gewährleisten, z.B. durch räumliche Distanzierung bei der Verteilung, das Tragen von Schutzausrüstung und andere Methoden bei der Übergabe von bestimmten Hilfsgütern und Bargeld. Auch künftig werden wir uns anpassen und innovativ sein. Wir werden unsere Hilfe für die Menschen verstärken, die sie am dringendsten benötigen, und zwar in Zusammenarbeit mit unseren Partnern vom Roten Kreuz und dem Roten Halbmond und den Zehntausenden Freiwilliger, die im ganzen Nahen Osten jeden Tag hinausgehen, um den Menschen während der Pandemie und darüber hinaus zu helfen."

Beispiele für COVID-19-Aktivitäten des IKRK im Nahen Osten

Syrien: Spende von Hygienepaketen für Häftlinge sowie Präventionsausrüstung und Materialien wie Desinfektionsmittel, Handschuhe, Schutzbrillen und -anzüge an Zentralgefängnisse, die dem Innenministerium unterstehen; Präventionsmassnahmen im Feldspital des IKRK und des Syrisch- Arabischen Roten Halbmonds im Lager Al Hol; Hygienepakete, die in den nächsten drei Monaten an 750 000 Binnenvertriebene verteilt werden.

Irak: Spende von Schutzausrüstung und -materialien wie Desinfektionsmitteln, Handschuhen, Schutzbrillen und -anzügen an Gesundheitseinrichtungen und Haftanstalten im ganzen Land. Bislang haben wir 18 Zentren für medizinische Grundversorgung, zwei Spitäler und 15 Rehabilitationseinrichtungen sowie 27 Haftanstalten mit mehr als 45 000 Gefangenen unterstützt.

Jemen: Schulung, Informationen zur Prävention sowie Materialien, die an die unterstützten Spitäler, Zentren für medizinische Grundversorgung und Dialysezentren verteilt werden, während die laufende Unterstützung dieser Einrichtungen fortgesetzt wird; öffentliche Informationskampagne mit Rundfunkbeiträgen zur COVID-Prävention.

Gaza: Spende von 20 000 Masken und anderem Schutzmaterial an den Palästinensischen Roten Halbmond; Unterstützung der Quarantänemassnahmen der Behörden durch Spenden von Decken, Matratzen und Hygieneartikeln. Lieferung von Infrarot-Thermometern zur Untersuchung von Verdachtsfällen und Bereitstellung anderer medizinischer Ausrüstung.

Libanon: Unterstützung der wichtigsten COVID-19-Test- und Behandlungseinrichtung des Landes, des Rafik-Hariri-Universitätsspitals, um die Reaktions- und Bettenkapazität zu erhöhen; Zusammenarbeit mit der Gefängnisleitung in Roumieh, um die Einrichtungen zu modernisieren und einen Isolationsblock für Verdachtsfälle und bestätigte Fälle einzurichten.

Jordanien: Bereitstellung von Hygiene- und Schutzausrüstung für Gefängnisse und Strafanstalten; die Geldtransferprogramme für syrische Flüchtlinge werden mit Präventionsmassnahmen fortgesetzt.

Iran: Das IKRK spendete dem Iranischen Roten Halbmond 500 000 CHF. Dieser spielt in mehreren Bereichen eine führende Rolle, darunter bei der Desinfektion von Gefängnissen, der Untersuchung und Behandlung von Patienten, bei der Information der Öffentlichkeit und der Unterstützung für den Lebensunterhalt hilfsbedürftiger Betroffener.

Bestehende humanitäre Bedürfnisse und die Aktivitäten des IKRK im Nahen Osten

• Die Hälfte aller medizinischen Einrichtungen in Syrien und im Jemen ist nicht funktionsfähig.

• Drei der fünf grössten humanitären Einsätze des IKRK im Jahr 2019 fanden im Nahen Osten statt - Syrien, Jemen und Irak

• Allein in diesen drei Ländern sind fast 40 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen.

• Das IKRK unterstützt die Behörden in der ganzen Region – Syrien, Jemen, Irak, Jordanien, Gaza, Westjordanland und Libanon – bei der Wasserversorgung und der Abwasserentsorgung.

• 2019 stellte das IKRK für zwei Millionen Menschen im Nahen Osten Nahrungsmittelhilfe zur Verfügung.

 

Weitere Auskünfte:

Ingy Sedky, IKRK-Sprecherin Syrien, +201005770750, isedky@icrc.org
Yara Khaweja, IKRK-Sprecherin Jemen, +961 70 661 374, ykhaweja@icrc.org
Sahar Tawfeeq Sulaiman, IKRK-Sprecherin Irak, +964 7901916927, sessa@icrc.org
Rona Halabi, IKRK-Sprecherin Libanon, +96170153928, rhalabi@icrc.org
Suhair Zakkout, IKRK-Sprecherin Gaza, +972 59 92 55 381, szakkout@icrc.org
Sarah Alzawqari, IKRK-Sprecherin Naher Osten, +961 3138 353, salzawqari@icrc.org
Ruth Hetherington, IKRK-Sprecherin Naher Osten, +41 79 447 3726, rhetherington@icrc.org
Matt Morris, Leiter IKRK-Öffentlichkeitsarbeit London, +44 7753 809471, mmorris@icrc.org