Vorort Daraya in Damas, Syrien (2024). Ammar Saboh/ICRC

EWIPA, Osla - Stellungnahme der Präsidentin

«Von der Demokratischen Republik Kongo bis nach Gaza, Jemen, dem Sudan und der Ukraine erleben wir heute ein globales und kollektives Versagen, die Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu schützen. Der menschliche Tribut dieser Kriege ist nicht hinnehmbar und wird durch den Einsatz von Sprengwaffen in bewohnten Gebieten noch verstärkt», sagt IKRK-Präsidentin Mirjana Splojaric. 23 April 2024, Oslo (Norwegen).
Statement 22. April 2024

Der menschliche Tribut dieser Kriege ist nicht hinnehmbar und wird durch den Einsatz von Sprengwaffen in bewohnten Gebieten noch verstärkt.

Sprengwaffen stellen eine Gefahr für alle Menschen – Kinder, Frauen und Männer – sowie für alle Einrichtungen – Häuser, Schulen und Spitäler – im weitläufigen Aufschlaggelände und darüber hinaus dar. In städtischer Umgebung, in der sich militärische Objekte, die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen vermischen, sind die Folgen verheerend. Die IKRK-Teams vor Ort beobachten zahlreiche getötete und verletzte Zivilisten, die oftmals mit dauerhaften Behinderungen oder ernsthaften mentalen Traumen leben müssen. Städte liegen in Trümmern, mit zerstörten Häusern, Schulen, Kulturstätten sowie zerstörter Infrastruktur. Die Existenzgrundlagen der Menschen wurden vernichtet. Die für das Überleben der Menschen notwendigen grundlegenden Dienstleistungen sind zusammengebrochen, sodass ganze Bevölkerungsteile ohne Zugang zu Wasser, sanitären Einrichtungen, Strom und Gesundheitsversorgung sind – was wiederum zu mehr Toten und Kranken sowie weiteren Vertreibungen führt und die erzielten Fortschritte um Jahrzehnte zurückwirft.


Das IKRK hat in den letzten zwei Jahren einen Anstieg des menschlichen Tributs, den Kriege und Sprengwaffen fordern, beobachtet. Dies ist nicht hinnehmbar.

Es wirft vor allem ernstzunehmende Fragen auf, wie Staaten und nicht staatliche bewaffnete Gruppen, die solche Waffen einsetzen, das humanitäre Völkerrecht (HVR), das die Durchführung von Kampfhandlungen regelt, auslegen und anwenden.

Die Bestimmungen des HVR stellen vor allem den Schutz der Zivilbevölkerung vor den tödlichen Gefahren von Kampfhandlungen in den Mittelpunkt. Sie beruhen auf dem wichtigen Grundsatz der Unterscheidung, wonach alle Konfliktparteien zu jeder Zeit zwischen der Zivilbevölkerung und Kombattanten sowie zwischen zivilen und militärischen Objekte unterscheiden müssen. Angriffe dürfen sich nicht gegen die Zivilbevölkerung oder zivile Objekte richten; wahllose Angriffe sind verboten.

Darüber hinaus schützen die Grundsätze von Verhältnismässigkeit und Vorsichtsmassnahmen die Zivilbevölkerung und zivile Objekte vor den Gefahren zufälliger Schäden bei Angriffen auf militärische Objekte. Bei der Durchführung militärischer Operationen muss immer darauf geachtet werden, die Zivilbevölkerung und zivile Objekte zu verschonen. Angriffe sind verboten, wenn sie bei der Zivilbevölkerung und zivilen Objekten voraussichtlich übermässige bzw. zu verhindernde oder zu minimierende zufällige Schäden verursachen.

Und dennoch beobachten wir Ausnahmen vom HVR, die ganze Bevölkerungsteile ihres Schutzes berauben. Wir verfolgen transaktionale und gegenseitige Argumente in dem Versuch, eine nicht akzeptable Auslegung der Verhältnismässigkeit zu rechtfertigen, während mögliche Vorsichtsmassnahmen nicht ergriffen werden bzw. anderes nicht konformes Verhalten geduldet wird. Wir beobachten eine zunehmende Betonung militärischer Notwendigkeiten, die zulasten des Schutzes der Zivilbevölkerung geht, während viel zu wenig Wert auf den schützenden Zweck des HVR gelegt wird. Konfliktparteien legen diese Grundsätze des humanitären Völkerrechts zunehmend flexibel aus und schaffen so einen gefährlichen Präzedenzfall mit tragischen Konsequenzen für alle.

Diese Grundsätze und Regeln müssen jedoch jederzeit von allen Konfliktparteien eingehalten werden, darunter auch beim Einsatz von Sprengwaffen in bewohnten Gebieten.

In dieser Hinsicht setzen wir uns entschieden für die politische Erklärung zu Sprengwaffen in bewohnten Gebieten ein, um die Bedeutung der umfassenden Einhaltung des HVR als Mittel zum Schutz der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte zu unterstreichen sowie zivile Schäden zu vermeiden bzw. so gering wie möglich zu halten.

Das HVR sieht zwar kein generelles Verbot des Einsatzes von Sprengwaffen in bewohnten Gebieten vor, aber da ein solcher Einsatz sehr wahrscheinlich zu unterschiedslosen Folgen führt, könnte dieser in Abhängigkeit der Umstände gemäss HVR durchaus verboten sein. Dies unterstreicht den seit langem bestehenden Aufruf des IKRK und der gesamten Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung an alle Staaten und nicht staatliche bewaffnete Gruppen, die sich an bewaffneten Konflikten beteiligen, den Einsatz von Sprengwaffen in bewohnten Gebieten zu vermeiden. Solche Waffen sollten nicht eingesetzt werden, solange keine ausreichenden Massnahmen ergriffen werden, um ihre weitreichenden Folgen und Risiken für zivile Schäden abzuschwächen.


In dieser Hinsicht ist die Erklärung ein wirklicher Durchbruch. Mit ihr wird das tiefgreifende Leid, das diese Waffen verursachen, anerkannt und es ist das erste Instrument, das die Staaten ausdrücklich dazu verpflichtet, ihren Einsatz einzuschränken.

Mit der Erklärung wird anerkannt, dass – über die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben hinaus – für den effektiven Schutz der Zivilbevölkerung von Staaten und Parteien bewaffneter Konflikte gefordert wird, ihre nationalen Richtlinien und Praktiken mit Blick auf den Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten im Rahmen von Einsätzen von Sprengwaffen in bewohnten Gebieten zu überprüfen und zu verbessern.

Das IKRK begrüsst diese politische Verpflichtung. Die täglichen Nachrichten aus der ganzen Welt über den Schrecken urbaner Kriegsführung unterstreicht die Relevanz und Dringlichkeit dieser Erklärung. Allerdings müssen wir der Realität bewaffneter Konflikte ins Auge sehen und anerkennen, dass das lebensrettende Potenzial der Erklärung nur dann konkrete Formen annimmt, wenn:

  • alle Staaten, die die Erklärung befürworten, diese auch umsetzen – getreu ihrem Wortlaut und ihrem Geist;
  • alle Parteien bewaffneter Konflikte, einschliesslich nicht staatlicher bewaffneter Gruppen, sich umfassend an die Verpflichtungen aus der Erklärung halten; und
  • alle Kriegsparteien das HVR, einschliesslich seiner Regeln zur Durchführung von Kampfhandlungen, in gutem Glauben auslegen, wie es von diesem Gesetzeswerk vorgesehen ist.

Worte sind wichtig. Politische Erklärungen sind wichtig. Dennoch bieten sie Menschen auf der ganzen Welt, die unter brutalen Bombardierungen leiden, nur einen geringen Trost. Was wirklich nötig ist, sind greifbare Veränderungen vor Ort. Wir rufen Sie alle auf, hier in Oslo und bei Ihnen zuhause, konkrete Massnahmen zu ergreifen, um diese Veränderungen herbeizuführen.