Libanon: Menschen laufen Gefahr, "im Unterbewusstsein enorme Narben davonzutragen"

31. August 2020
Libanon: Menschen laufen Gefahr, "im Unterbewusstsein enorme Narben davonzutragen"
Mindestens 180 Menschen haben bei der Explosion am 4. August 2020 ihr Leben verloren, während andere weiterhin vermisst bzw. noch nicht identifiziert sind. IKRK

Beirut/Genf (IKRK) – Drei Wochen nach der enormen Explosion, die den Hafen von Beirut und die benachbarten Stadtviertel zerstört hat, sind die körperlichen und seelischen Schäden überwältigend.

Mindestens 180 Menschen haben bei der Explosion am 4. August 2020 ihr Leben verloren, während andere weiterhin vermisst bzw. noch nicht identifiziert sind. Über 6 000 Personen wurden verletzt und Hunderte befinden sich noch in Spitälern.

"Nicht alle Wunden – sei es körperlicher Art oder an einer geliebten Stadt – sind sichtbar", erklärt Marco Baldan, Chirurg des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz im Libanon und einer der Nothilfekoordinatoren nach der Explosion. "Neben den schrecklichen körperlichen Wunden, die in den Spitälern behandelt werden, laufen die Menschen Gefahr, im Unterbewusstsein enorme Narben davonzutragen, wenn sie bei der Verarbeitung der psychologischen Folgen dieser Katastrophe nicht unterstützt werden. Die Wiederherstellung der psychischen Gesundheit ist ein entscheidender Teil der medizinischen Nothilfe."

Das Ausmass des Leids infolge der Explosion ist erschütternd. Manche Menschen mussten mitansehen, wie Angehörige direkt vor ihren Augen starben, während andere immer noch nach ihren Liebsten suchen. Wieder andere mussten ohnmächtig miterleben, wie ihre Häuser einstürzten und ihr komplettes Hab und Gut im Bruchteil einer Sekunde zerstört wurde. Erwachsene und Kinder trugen Verletzungen davon, die ihr Leben nachhaltig verändern werden, und haben Mühe, sich in dieser neuen Situation zurechtzufinden; andere fühlen sich schuldig, überlebt zu haben oder nicht in der Lage gewesen zu sein, anderen nach der Explosion zu helfen.

"Die Folgen für die Menschen sind schrecklich", berichtet Isabel Rivera Marmolejo, IKRK-Delegierte für psychische Gesundheit im Libanon. „Eine Frau, die als Flüchtling aus Syrien kam, hat ihr Kind bei der Explosion verloren und unsere Hotline angerufen. Sie erzählte uns, dass sie während des Kriegs bereits ein anderes Kind verloren habe, und nun völlig überwältigt von ihrer Trauer sei. Sie benötigte dringend Hilfe."

"Selbst Menschen, die auf den ersten Blick keine Schäden davongetragen haben oder nur leicht verletzt wurden, verspüren ein tiefes Gefühl des Verlusts und der Verzweiflung", fügt sie hinzu. „Dies ist eine ganz normale Reaktion auf ein solch schlimmes Ereignis und die Menschen dürfen damit nicht allein gelassen werden. Wir stehen mit unserer Hilfe bereit."

Anwohner eines der am schlimmsten betroffenen Stadtviertel drücken in Gesprächen mit dem IKRK ihre Fassungslosigkeit über das Geschehen und ihre Angst vor der Zukunft aus.

"Wir können es einfach nicht verarbeiten", so Rodrigue Makhlouf, der im Stadtviertel Karantina in der Nähe des Hafens lebt. "Wir haben schon viele schreckliche Dinge und Explosionen im Libanon erlebt, aber das ist das erste Mal, dass wir uns nicht sicher fühlen."

"Meine Tochter wurde im Gesicht und an den Ohren verletzt", sagt Elie Al Chayeb. "Am Tag nach der Explosion hörte sie einfach nicht auf, zu schreien... Wie sollen die Kinder die Erinnerung an das Geschehene verarbeiten?"

Die Explosion ereignete sich zu einem für den Libanon bereits äusserst instabilen Zeitpunkt – nach dem monatelangen Kampf gegen die COVID-19-Pandemie inmitten der immer schlimmer werdenden wirtschaftlichen Krise. Der Verlust an Arbeitsplätzen, Geschäften und Ersparnissen hatte in den letzten zehn Monaten enorme Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Menschen. So steigen Symptome im Zusammenhang mit Depressionen an, darunter Selbstmordgedanken und Hoffnungslosigkeit.

"Seit Ausbruch der Pandemie beeinträchtigen die verhängten Corona-Massnahmen wie Ausgangs- und Kontaktsperren den traditionellen Umgang der Menschen mit derartigen Krisen, denn sie dürfen nicht gesellig beieinander sein, sich mit Freunden treffen und sich über ihre Ängste und Sorgen austauschen", sagt Isabel Rivera Marmolejo. "Und die Explosion hat jetzt noch ihr Übriges getan."

Die Lage ist für einige der besonders benachteiligten Menschen im Libanon äusserst schwierig, darunter auch für die rund 1,5 Mio. syrischen Flüchtlinge. Für viele von ihnen war die Explosion eine quälende Erinnerung an den Konflikt und die instabile Lage, vor der sie geflüchtet sind. Sie scheinen alles von neuem zu erleben, werden von Alpträumen verfolgt und haben schlicht Angst.

"Mein Sohn braucht psychologische Hilfe", sagt ein syrischer Flüchtling, der nicht namentlich genannt werden möchte, einem IKRK-Team. „Er kann nicht schlafen, weil alle Erinnerungen aus dem Krieg in Syrien wieder zurückkehren. Er hat jede Nacht Panikattacken und fängt vor Angst an zu zittern."

Eine weitere benachteiligte Bevölkerungsgruppe sind die ausländischen Hausangestellten, die im Libanon arbeiten. Viele von ihnen haben Heim und Arbeit verloren und keinen Zugang zu dringend benötigter Hilfe in ihrer eigenen Sprache.

Geringverdiener laufen ebenfalls Gefahr, keine angemessene psychologische und psychosoziale Unterstützung zu erhalten, da diese in den zahlreichen privaten Spitälern im Libanon prohibitiv teuer ist.

"Es gibt viele Gründe, warum die Menschen nicht die Hilfe erhalten, die sie gerade dringend benötigen. Sie haben z.B. keinen Zugang zu entsprechenden Dienstleistungen bzw. können sich diese nicht leisten, es bestehen Sprachbarrieren oder sie werden gesellschaftlich ausgegrenzt, wenn sie zugeben, derartige Hilfe zu benötigen", so Marmolejo. "Wir wollen es allen Menschen so einfach wie möglich machen, den ersten Schritt zu gehen, um nach Hilfe zu fragen. Unsere Hotline ist unter 70 34 16 75 erreichbar und unsere Leistungen in Beirut und Tripoli stehen kostenlos zur Verfügung. Die Menschen werden damit nicht allein gelassen."

 

Anmerkung für Redakteure:

Das IKRK verfügt im Libanon über ein achtköpfiges klinisches Psychologenteam, das in unterschiedlichen Bereichen tätig ist, darunter die Unterstützung von Gewaltopfern und Flüchtlingsgruppen. Nach der Explosion haben wir eine Hotline eingerichtet, an die sich Menschen wenden können, die Zugang zu psychologischer Unterstützung und physischen Rehabilitationsleistungen des IKRK benötigen. Wir stellen auch psychologische Unterstützung für Verwundete am Rafik-Hariri-Universitätsspital in Beirut und im Waffentraumatologie-Zentrum in Tripoli bereit.

Die IKRK-Hotline ist unter 70 34 16 75 erreichbar (für Anrufe im Libanon).