Aus den Archiven: Bagdad. Porträt einer Familie, die einen Angehörigen seit dem Irak-Kuwait-Krieg vermisst. / Mohammad Jawad Al Hamzah

Ein gebrochenes Herz, das niemals heilt: Weshalb die Familien der Vermissten im Nahen Osten Antworten verdienen

Statement 30. August 2021 Irak Syrien Libanon Libyen

Von Fabrizio Carboni, IKRK-Regionaldirektor für den Nahen und Mittleren Osten.

"Das Mindeste, was ich tun kann, ist, weiter zu suchen... die Geschichte muss ein Ende haben" - die Worte des 34-jährigen Adib sind ergreifend. Gemeinsam mit seiner Familie ist er auf der Suche nach Hinweisen auf den Verbleib seines Grossvaters, der während des Bürgerkriegs im Libanon 1975 verschwunden ist. Adib hat seinen Großvater nie kennengelernt, aber er sieht ihm sehr ähnlich. Für seine Familie, die nach über vierzig Jahren immer noch nach Antworten sucht, ist diese Ähnlichkeit eine bittersüsse Erinnerung.

Überall wo Kriege geführt werden, verschwinden Menschen. Im Nahen Osten, wo ständig neue Konflikte ausbrechen und die der Vergangenheit in den Schatten stellen, ist die Zahl der Vermissten schockierend hoch. In einer Region, die ohnehin schon von Gewalt, Unsicherheit und Entbehrungen geprägt ist, kommt das Fehlen von Antworten über den Verbleib eines vermissten Menschen oft einer endlosen, psychischen und emotionalen Folter gleich.

Der Internationale Tag der Verschwundenen am 30. August ist ein Anlass, sich daran zu erinnern, dass die Kriege, die heute in Geschichtsbüchern stehen, für viele Familien immer noch nicht beendet sind. Wussten Sie zum Beispiel, dass der Irak eine der höchsten Zahlen an Vermissten in der Welt aufweist? Würde man eine beliebige irakische Familie fragen, so würde diese mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Geschichte über jemanden erzählen können, der nie nach Hause gekommen ist.

Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass Zehntausende von Vätern, Söhnen und Brüdern aus dem iranisch-irakischen Krieg von 1980-1988 noch immer vermisst werden. All diese Menschen ausfindig zu machen, bleibt weiterhin eine mühsame Aufgabe. Um der Familien willen müssen wir jedoch weitermachen. Und auch die Staaten sollten weiterhin ihren Teil dazu beitragen. Jeder einzelne Fall ist wichtig.

Oftmals ist es ein Wettrennen gegen die Zeit. Ich werde niemals die Geschichte von Nabiha* vergessen, der Mutter von Ahmed, einem jungen irakischen Soldaten, der in den 1980er Jahren zum Kampf in den Iran geschickt wurde. Bis zu ihrem Tod wartete Nabiha am Strassenrand, in der Hoffnung, ihren Sohn in einem der Konvois zu finden, die heimkehrende Truppen brachten. Jedes Mal, wenn ein solcher Konvoi vorbeifuhr, hielt sie ein Stück Papier mit Ahmeds Namen hoch, in der Hoffnung, dass er es sehen würde. Doch als sie als alte Frau starb, lag das Papierschild immer noch neben ihrem Bett. Ihre lebenslange Suche blieb unerfüllt.

Das Leben eines Menschen sollte nicht mit einem gebrochenen Herzen enden. Doch leider haben Generationen von Familien im Nahen Osten aufgrund historischer und andauernder Konflikte keine andere Wahl. Freie Stühle, liegen gebliebene Kleidung, wertvolle Fotos und verpasste Geburtstage gehören für die Familien der Vermissten zum Alltag

Hoffnung nährt verwundete Herzen, und die Kraft der Entschlossenheit darf nicht unterschätzt werden. Im März dieses Jahres wurden die sterblichen Überreste von 20 kuwaitischen Staatsangehörigen, die während des Golfkriegs 1991 vermisst wurden, an ihre Familien zurückgegeben, die ihren Angehörigen nach 30 schmerzhaften Jahren endlich ein angemessenes Begräbnis ermöglichen konnten. Im Libanon, wo noch immer Tausende vermisst werden, war die Verabschiedung des Gesetzes 105 über die Vermissten und gewaltsam Verschwundenen im November 2018 - das zur Einsetzung einer nationalen Kommission zur Klärung des Schicksals der Vermissten führte - ein Meilenstein für die betroffenen Familien.

Diese Beispiele zeigen, was möglich ist. Auch wenn Kriege, Vertreibung und Migration unvermeidlich sind, müssen es Vermisste nicht sein. Die Arbeit an Vermisstenfällen erfordert Beharrlichkeit und Entschlossenheit. Es kann Jahre dauern, bis Antworten gefunden werden. Regierungen, Streitkräfte und bewaffnete Gruppen sind verpflichtet, Informationen zur Verfügung zu stellen, die den Familien, die auf die Rückkehr ihrer Angehörigen warten, zu Antworten verhelfen. Auch die Staaten müssen weiterhin mehr tun, um die Familien bei der Suche, Bergung und gerichtsmedizinischen Identifizierung zu unterstützen.

Nabiha ist mit einem verwundeten Herzen gestorben. Vielen weiteren Familien droht das gleiche Schicksal. Die Arbeit, um den trauernden Familien Gewissheit zu ermöglichen, muss fortgesetzt werden.

*Alle Namen wurden geändert, um die Privatsphäre der Familie zu schützen.

**Übersetzt aus dem Arabischen - die Originalfassung ist hier auf der Alarabiya Website zu finde.